Alte Tante
- daehlert
- 23. März
- 2 Min. Lesezeit
Wie despektierlich! Vermutlich riskiere ich eine Anklage wegen Verleumdung oder Ehrverletzung. 'Alte Tante'... Pfui, sowas sagt man nicht mehr!
Ich muss präzisieren: Die Tante, die ich meine, wird es als Kompliment auffassen: Vor 245 Jahren erschien die erste Ausgabe der NZZ. Uralt. Ausserdem auch dick - zum Glück gibt es sie längst online: Für Exil-Deutschschweizer, die beim Frühstück gerne Zeitung lesen, die einzige Lösung.
Ein Hoch auf die 'alte Tante' aus Zürich! Ihr habt es bemerkt: Sie inspiriert häufig meinen Blog. Dafür bin ich dankbar und referenziere ab und zu ihre Interviews oder Artikel. Versteht mich nicht falsch: Ich werbe nicht für die Zeitung, sondern für die Sache. Auch Tagi, BZ oder Le Temps bieten Qualitätsjournalismus. Den brauchen wir, denn das Recht auf freie Meinungsäusserung ist eines der prägenden Merkmale eines modernen, freiheitlichen Staatswesens. Es braucht diese professionellen Stimmen: Sie üben das Recht stellvertretend für die aus, welche es nicht selbst können oder wollen. Darum ist es auch legitim, um nicht zu sagen: demokratische Pflicht, ein Erzeugnis zu abonnieren, das die eigenen Werte kompetent vertritt.
Die NZZ ist dezidiert liberal, aber kein einseitiger Echoraum. Sie scheut nicht die Kontroverse: Interviews mit Grössen der FDP werden genau so angriffig geführt wie solche mit einer Sozialdemokratin oder einem Nationalisten. Als Leser fühlt man sich ernstgenommen, geschützt vor einseitiger Manipulation und 'terrible Simplification'.
Natürlich bin ich nicht immer einverstanden. Beispiel gefällig? Die 'Tante' hat ein Faible für 'Falken', und die haben seit dem Ukrainekrieg sowieso Flugwetter. Ich bin kein naiver Pazifist, aber Paranoia ist nun mal der Fond de Commerce der Sicherheitsexperten. Ein Marketing der düsteren Art: Augenmass ist angebracht. Kriege kann man - vielleicht - beenden, Feindbilder überdauern. Hüben wie drüben. Angstmacherei ist ein Todfeind des Liberalismus.
Zurück zur Tante. Meiner Tante, die tatsächlich sehr alt geworden ist. Kein Tag ohne Thuner Tagblatt, war ihre Devise, und auch ihr zuliebe bin ich dieser Lokalausgabe der Berner Zeitung jahrelang treu geblieben. Tägu-Themen haben uns den Stoff für unzählige, lange Telefonate geliefert.
Dann abonnierte ich die 'Liberté'. Das war interessant, aber ernüchternd: Je besser ich wusste, was meinen Wohnkanton Freiburg bewegt, desto fremder habe ich mich gefühlt. Und viel zu oft einseitig 'gemahnfingert'...
Tradition und lokale Verankerung - man mag es bedauern, aber allein damit werden keine Pressetitel überleben. Dem Vergleich mit einer NZZ halten sie trotz besten Absichten und Herzblut der Schreibenden nicht stand. Tanten und Onkel mit Smartphone-Phobie, die fast hundert Jahre in derselben Gemeinde gelebt und gearbeitet haben, sterben aus, und mit ihnen Ankündigungen von Lotos, Todesanzeigen und Printwerbung für Kleingewerbler. Sie teilen das Schicksal der Tante-Emma-Läden, der Sparkasse Hinterfultigen, dem schwarzen Wandapparat der PTT und so vielem aus der 'guten' alten Zeit, das wir nicht wirklich vermissen.
Es ist müssig, ein Mediensterben zu beklagen: Statt viele künstlich am Leben erhaltene brauchen wir wenige, konkurrenzfähige Erzeugnisse mit breiter und tiefer Information über alles, was uns Leserinnen und Leser des 21. Jahrhunderts bewegt. Liberal oder linksgrün-konservativ, aber nie einseitig und seicht. Die 'alte Tante' und ihre Nichten altern nicht: Sie erscheinen täglich neu. Pardon - stündlich.
Hoffentlich noch lange.
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