Ansichtssache
- daehlert
- 21. Juli
- 2 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 22. Juli
Ich habe gerade mein Abo für NZZ Online erneuert: 320 Franken. Teuer? Ansichtssache: 1.5 Rappen pro Leseminute sind ein Schnäppchen, und die tägliche Stunde gut investierte Zeit. Knatsch und Tratsch aus dem Üechtland verpasse ich zwar, dafür weiss ich Bescheid über geplante Linksabbiegeverbote in Zürich Hottingen: TCS und Gewerbler sind dagegen, Linksgrün lobt die neue Lebensqualität. Exakt wie in Fribourg.
Nicht alles, was die 'alte Tante' erzählt, finde ich gut. Bei politischen Inhalten und Kommentaren ist das normal: Qualitätsjournalismus soll viele MEINungen und somit auch solche zu Wort kommen lassen, die nicht MEINE sind. Es ist wie beim Stockhorn: In Gunten behaupten sie: Ein spitzer Zahn. Wanderer auf dem Bantiger lachen: Rundlicher Buckel. Nur geborene Thuner kennen die Wahrheit: Der Berg ist ein ebenmässig geformter Kalkquader. Alle Postkarten vom Schlossberg erbringen den Beweis.
Postkarten? 'Wie KI uns das Sehen lehrt', erklärt uns das NZZ-Magazin vom 19. Juli. Glauben, was wir auf einer Fotografie sehen? Tempi passati, behauptet der Journalist: KI-generierte Deep-Fakes oder Retouchen sind ein Segen. Sie zwingen uns endlich dazu, unseren kritischen Betrachtergeist zu schärfen.
Gegen letzteres ist nichts einzuwenden. Aber mussten wir dazu tatsächlich auf die KI warten? Jeder Ferienkatalog erbringt den Gegenbeweis: Wunderschöne Lage des Hotels am Strand, bloss bleibt die Autobahn auf der andern Seite unsichtbar. Das malerische Dorf, ohne die Gerüche der nahen Abfalldeponie. Schon klicken wir auf 'Jetzt buchen!'
Jedes Bild ist Ansichtssache - im Wortsinn. Wir sehen, was wir sollen. Was wir möchten. Jede Fotografie ist ein Werk. Der mit Bedacht gewählte Ausschnitt, die Beleuchtung zu einer bestimmten Tageszeit, Blendenwahl, Verschlusszeit, Tiefenschärfe: Diese Mittel zur gezielten Gestaltung gab es schon, als man noch Filmröllchen in die Kamera einlegen musste. Schon vor hundertfünfzig Jahren verwandelte der Lichtbildkünstler einen hässlichen Despoten in einen Landesvater mit Engelsgesicht. Pittoreske Darstellungen von Urvölkern, von A-Z inszeniert, fanden den Weg in Fachbücher. Und sogar die seriöse Tagesschau suggeriert immer wieder komplette Zerstörung, wo 'nur' eine Häuserzeile ausgebombt wurde: Der Manipulation, gut- oder böswillig, gewollt oder zufällig, war schon immer Tür und Tor geöffnet, kritikloser Bilderglaube noch nie empfehlenswert. Auch im besagten Artikel wird darauf hingewiesen.
Wenn dem so ist: Wozu der Umweg über die KI? Der Zeitgeist gefällt sich darin, brandaktuelle Hilfsmittel wie Smartphones oder Soziale Netzwerke für alles verantwortlich zu machen, was uns an der Gesellschaft missfällt. Als wären wir der bösen Technik schutzlos ausgeliefert und dazu verdammt, von ihr missbraucht zu werden! Jede Epoche sucht sich ihre eigenen Sündenböcke.
Deep-Fakes sind nur eine neue Form des längst alltäglichen Bilderwahnsinns. Zugegeben: Besonderes fies und ungewohnt. Wenn ihr ein Bild sehen solltet, wo ich Donald Trump die Hand schüttle, dürft ihr keine voreiligen Schlüsse ziehen. Vielleicht habe ich in den USA einen Doppelgänger?
Nicht die KI und die damit generierten Fakes sind das Problem, sondern der Hang der Menschen, zu glauben. Wissen erwerben ist anstrengend. Sehend, hörend, riechend, schmeckend, tastend oder lesend: Niemand hat je ausgelernt, die Realität zu dechiffrieren. Auch die NZZ nimmt uns die Arbeit nicht ab.
Auch alten Tanten darf man nicht alles glauben.
Oder ist auch das Ansichtssache?
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