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Irrtum,

  • daehlert
  • 24. Juni
  • 3 Min. Lesezeit

sprach der Igel... Pardon: Abgewetzter Spruch. Mit oder ohne Kaktus - wir alle irren uns. Selten. Bisweilen. Manchmal merken wir es selbst, manchmal müssen uns andere darauf aufmerksam machen.

Niemand wagt es zu bestreiten: Die überwältigend grosse und weltumspannend weiter wachsende Population einer einzigen Säugetierart - hoch entwickelt, gross, gefrässig - widerspricht eigentlich den Naturgesetzen. Darum dachte ich: Fast alle Probleme der Gegenwart wären inexistent oder weniger drängend, wenn wir nicht so viele wären. Weniger Menschen konsumieren weniger Ressourcen: Eine kontrollierte Anzahl grosser Fussabdrücke wären nicht schlechter als unendlich viele kleine. Das Grundübel müsste man anpacken, statt immer nur die Folgen, sprich Symptome, zu bekämpfen. Freiwillige vor!

Ich hatte mich geirrt: Trotz aller Evidenz wollte niemand darüber nachdenken, wie wir geordnet etwas abmagern könnten, ohne dass gleich Wirtschaft und Sozialstaat kollabieren. Ozempic für die Erdbevölkerung? Fehlanzeige. 'Elefant im Raum', hätten Journalisten festgestellt, aber das Thema war ja gerade nicht Hype.

Jetzt schreiben sie, denn der Rückgang ist schon in vollem Gange, bevor jemand passende Massnahmen ausgedacht hat. Ausserhalb der Entwicklungsländer sinken die Geburtenraten, wie die NZZ kürzlich ausführlich analysiert hat: 2.1 Geburten pro Frau wären nötig, um die Bevölkerungszahl zu erhalten. Im Westen liegen die meisten Staaten schon unter eineinhalb, die Schweiz bei 1.3. Die Diskussionen über Chinas Scheitern der Ein-Kind-Politik oder andere Massnahmen der Geburtenkontrolle können wir uns sparen: Aus liberaler Sicht sind sie nicht akzeptabel. So gesehen bin ich froh, mich geirrt zu haben.

Trotzdem: Keine gute Nachricht. Niemand ist darauf vorbereitet, wie wir Wohlstand und Freiheit mit einer deflationären Bevölkerung in Einklang bringen. Im Gegenteil: Rechts will die Zehnmillionenschweiz zementieren, um die Einwanderung zu unterbinden - dabei hat gerade sie uns bisher vor ernsthaften Problemen gerettet. Linksgrün findet wirtschaftlichen Abschwung affengeil - im Prinzip: Solange er das Wachstum des Staatsapparats, der Vorschriften und Sozialleistungen nicht behindert. Dummerweise zahlen nie Geborene später keine Steuern. Sie werden auch nicht den Standort Schweiz mit ihrer intellektuellen oder fachspezifischen Leistung stärken.

Nun wird neuerdings gerätselt, wie man die Geburtenrate wieder auf Kurs bringt - in liberalen Demokratien genauso wie im autoritären Russland, China oder neokonservativen Regimes wie in Ungarn. 'Kinder kann man weder befehlen noch kaufen', kommt die NZZ zum Schluss. Das freut mich: Moralisierende ideologische oder religiös verbrämte Appelle, Babies zu machen, laufen genauso ins Leere wie ein exzessiver Ausbau von Kindergeld und externer Betreuungsangebote. Das beste Mittel, so das Fazit des Artikels, sei Kinderreichtum im Umfeld potentieller Eltern - das wirke ansteckend.

Das finde ich jetzt nicht so toll. Die Nachbarn haben einen Swimmingpool bauen lassen? Ansteckend. Die Freundin feiert ihre Hochzeit im Hollywoodstil und fliegt zum Honeymoon auf die Seychellen? Ansteckend. Der Kollege fährt neuestens einen grossen SUV? Hoch ansteckend. Der Hobbykollege postet ein Video über seine Loksammlung? Anste... Sorry, ich plädiere auf 'unschuldig'. Niemand muss mich nachahmen.

Wir haben sie nicht alle! Was uns vorher nicht wirklich gefehlt hat, brauchen wir plötzlich, weil andere es haben: Gegen gesellschaftlichen Druck und Neid ist kein Kraut gewachsen. Familienidyll mit Kindern ist auch ein Statussymbol. Leider. Denn Kinder aufziehen ist eine anspruchsvolle Aufgabe und Elternschaft eine Verantwortung, der man sich nicht mehr erziehen kann. Die NZZ irrt: Sich den Schritt gut zu überlegen, ist kein Zeichen von Egoismus. Mehr Nachwuchs quasi als Bürgerpflicht einzufordern, finde ich fast noch illiberaler, als verordnete Geburtenkontrolle. Nach der Quotenfrau das Quotenkind? Nein, danke! Man denke an das Wohl der Kleinen.

Dass wir unsere individuellen Lebenspläne verfolgen dürfen, ohne schräg angeschaut oder gemahnfingert zu werden, ist ein riesiger Fortschritt. Diese Errungenschaft dürfen wir nicht aufs Spiel setzen, denn die individuelle Fokussierung auf Ziele, die unserer Neigung und Eignung entsprechen, nützt auch der Gemeinschaft.

Keine Frage: Wer sich für eine Familie entscheidet, verdient umfassende Unterstützung. Den Eltern zuliebe. Den Kindern zuliebe. Bei den Betreuungsangeboten gibt es noch viel Luft nach oben: Weder Frauen noch Männer sollen unfreiwillig 'zurück an den Herd' geschickt werden. Und es braucht, ich darf mich irren, Alternativen zur konventionellen Ehe. Dieses 'One Size fits All' Konzept und Multipack von Liebe, Sex und harmonischem Zusammenleben passt längst nicht mehr in jedes Lebenskonzept, und wenn die ideale Partnerin auch noch die beste aller Mütter sein soll, wird es kompliziert. Es braucht Modelle für Elternschaft als Projekt - ohne darüber hinausgehende Ansprüche, aber juristisch hieb- und stichfest. Patchwork auf Ansage statt nach Zufall.

Summa summarum: Wir müssen mit dem Schwund kalkulieren, statt versuchen, das Rad zurückzudrehen. Wissenschaft und Politik sind gefordert, Visionen für einen Staat mit sinkender Bevölkerungszahl und trotzdem florierender Wirtschaft zu entwickeln. Zentraler Punkt, ich irre mich bestimmt nicht, ist die Umgestaltung der Arbeitswelt und Neuerfindung von Karriere und Unternehmenskultur: Wir werden länger arbeiten, aber das ist kein Schreckgespenst, wenn sich Work und Life nicht als Feinde gegenüberstehen und das Ziel nicht mehr Pensionierung heisst.

Da habe ich gerade ein grosses Fass aufgemacht. Ein Jahrhundertthema, würde ich meinen. Ich behalte mir daher ausdrücklich vor, mich geirrt haben zu dürfen.

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