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Pfahlbauertrick

  • daehlert
  • vor 3 Tagen
  • 3 Min. Lesezeit

Bevor sie Dörfer - vielleicht auf Pfählen - am Seeufer bauten, wohnten unsere Ahnen in Höhlen. Später führte der Visionär Divico die Helvetier in den vielversprechenden Süden, bevor die überlegenen Römer bei Bibracte seinen Tross zum Umkehren zwangen: Mein Geschichtsunterricht in der Primarschule war ein Unterricht der Geschichten. Sie luden ein zum Träumen und Nachspielen. Niemand wollte daran zweifeln.

Kein Lehrer hätte den Vergleich der Helvetier und Roms Legionen mit heutigen Migranten und der Frontex gewagt. Ach so, EU und Schengen gab es 1968 noch nicht. Niemand diskutierte über Migration. Dafür über Fremdarbeiter.

Unterdessen sind uns Italiener und Spanier ebenso wenig fremd wie das Wissen, dass Höhlen vor zigtausend Jahren eher Kult- als Wohnstätte waren. Selbst der Rütlischwur ist längst als Fiktion entlarvt! 'Geschichtsunterricht für Ketzer', titelte eine Revue 1970, und stellte die Mythen der Urschweiz den Fakten gegenüber. Eine gleichaltrige Nachbarin hatte den Lesestoff mitgebracht: An der Mädchensekundarschule Thun wehte offenbar ein revolutionärerer Geist als am ehrwürdigen Knaben-Progy. Ich war schockiert.

Die Schule von 1970 ist Geschichte. Sogar in Thun besuchen längst beide Geschlechter dieselbe Oberstufe, und die Lehrpläne wurden umgepolt, in der Überzeugung, es sei wichtiger, die Hintergründe des kalten Krieges zu verstehen, als Baupläne von Ritterburgen. Tempi passati, als wir in der neunten Klasse knapp noch Napoleons Kriege streiften.

Nun schwören die der schulischen Vergessenheit anheimgefallenen Römer Rache: Dank Giorgia Meloni. Sie verordnet der italienischen Jugend die Rückbesinnung auf die eigene glorreiche Vergangenheit. Man ahnt die politische Absicht der Rechten.

Don Camillo hin, Beppone her: Schule ist, tja, eine politische Institution. Darüber zu streiten, welche Epochen und Episoden prioritär behandelt werden sollen, ist eine Alibiübung: Wesentlicher ist der Konsens über den Auftrag des Geschichtsunterrichts. Junge Bürgerinnen und Bürger einer liberalen Demokratie müssen lernen, Fakten zu checken. Sollen erkennen, wie gegensätzlich derselbe Stoff interpretiert werden kann. Sich darüber bewusst werden, wie viel 'Falsches' sich in unseren Köpfen angesammelt hat und wie schwierig es ist, sich davon zu befreien, ohne gleich das Kind mit dem Bad auszuschütten.

Das schafft ein fähiger Lehrer auch anhand von Bundesbrief und Rütlischwur. Sogar den mythischen Gessler kann man kontextualisieren: Wäre Willi National nicht als Schwurbler vor Gericht oder als Terrorist im Knast gelandet, wenn er heute lebte? Es kommt nicht auf die Denkmäler an, sondern auf den Blick, den man auf sie richtet. Wer den Jurakonflikt versteht, kann sich vielleicht genauso gut in den Ukrainekrieg eindenken wie eine Expertin für slawische Geschichte. Auf andere Weise, aber, für uns, nachvollziehbarer.

Das Dilemma der Schule ist die ungebremst wachsende Flut an Stoffen und Fähigkeiten, die sie vermitteln soll. Die Generation Alpha muss zwingend lernen, wie IT wirklich funktioniert und was KI mit Sozialen Netzwerken zu tun hat. Wirtschaft, Recht? Kaum zu glauben: Immer noch Mauerblümchen der Lehrpläne, sogar in den meisten Gymnasialklassen. Unsere Schulpolitik muss Prioritäten setzen. Es geht nicht anders.

Zurück in den Süden: Freiwillig Latein lernen ist ebenso wenig falsch, wie die Vergangenheit des eigenen Landes und Europas zu verstehen. Positiv besetztes, selbstkritisches Identitätsbewusstsein ist ein erstrebenswertes Gut. Erst wenn in der Schule wieder Märchen erzählt statt historisches Wissen und Denken gefördert werden, wird es brenzlig: Identitäre Politik ist hässlich. Und mit Verlaub, liebe Italiener: Religion hat als Schulfach eines liberaldemokratischen Staatswesens ausgedient. Lehrpläne sind verhandelbar, Laizismus und Pluralismus sind es nicht.

Bitte keine Pfahlbauertricks, Frau Meloni. Nicht auf dem Buckel der Jugend: Sie verdient Zukunft und Urteilsvermögen, nicht Konservativismus und Ideologie.

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