Kursbuch
- daehlert
- 5. Apr.
- 2 Min. Lesezeit
Ein Kultobjekt. Ein Fossil aus der Epoche, wo man zum Gedruckten griff, um sich zu informieren: Meyers Lexikon in 24 Bänden. Das Telefonbuch. Oder eben: Das amtliche Kursbuch für alle Reisewilligen. Weisse Seiten: Eisenbahnen. Blaue für die Schiffe, gelbe für Busse und rote für internationale Verbindungen, alles in einem Band.

Der weisse Streifen identifiziert es als Winterausgabe - der Sommerfahrplan hatte einen roten und erschien im Mai zum 'grossen' Fahrplanwechsel. Und, heute kaum zu glauben: Man konnte sich auf das Kursbuch verlassen! Am Wochenende wegen Bauarbeiten den Fahrplan zu ändern oder in den Sommerferien ganze Strecken zu sperren, wie seit Jahren üblich, hätte man ohne die heutigen digitalen Hilfsmittel gar nicht stemmen können.
Ich zeige euch hier nicht irgendein Kursbuch: Der Winterfahrplan 1974/75 ist ein ganz besonderer. Für mich persönlich: Vor exakt fünfzig Jahren war ich zum ersten Mal stolzer Besitzer eines Generalabonnements. Es war mein erstes grosses Abenteuer: Während der Frühlingsferien fuhr ich mit einem Kollegen etwa elftausend Kilometer kreuz und quer durch die Schweiz - ungefähr jeden zweiten Tag von Morgen früh bis kurz vor Mitternacht. Nachtzüge über den Gotthard - Umsteigen in Bellinzona um drei Uhr in der Früh auf dem Gegenzug - nutzten wir für Zweitagesreisen.
Nicht alles lief wie geplant: Im April schneite es ausgiebig. Wegen Lawinenniedergängen war auch der Gotthard zeitweise unterbrochen, und die Dampfschneeschleuder der SBB, geschoben von zwei grossen Diesellok, erlebte ihren letzten Einsatz. Als eines morgens die Gotthardsperre aufgehoben wurde, sassen wir im ersten Zug in den Tessin und genossen am Abend eine Gratisfahrt im TEE Roland über Gallarate-Simplon-Lötschberg, weil die Nordrampe schon wieder zu war. Luino-Thun ohne Umsteigen: Welch ein Ereignis!
Besonders ist dieser Winterfahrplan auch, weil er das Ende einer Epoche markiert: Im Mai 1975 wurde die Heitersberglinie eröffnet, die erste Netzerweiterung für den Personenverkehr nach sechzig Jahren! 1980 folgte die Bornline und ein Jahr später die Zürcher Flughafenbahn - drei Projekte, welche auf der West-Ost-Hauptachse neue Angebote ermöglichten und die Fahrzeit Bern-Zürich um elf Minuten verkürzten. Es war der Auftakt zum beispiellosen Netzausbau in der Schweiz.
1982, bei Einführung des nationalen Taktfahrplans. änderte sich das Aussehen des Kursbuchs. Fünfunddreissig Jahre später, 2017, erschien es zum letzten Mal als Printprodukt: Seit vielen Jahren in drei voluminöse Bände aufgeteilt, war es zu einem Dinosaurier geworden, unübersichtlich und praktisch nutzlos: Wer reisen will, greift schon lange zum Smartphone.
Ich finde Fahrpläne noch genau so faszinierend wie damals. Glücklicherweise gibt es www.oev-info.ch, wo Interessierte viel mehr finden als nur das 'Kursbuch' in Form von PDF-Dokumenten. Dasjenige von 1975 war noch Handwerkskunst der Schriftsetzer - die haben alle Register gezogen, um die betriebliche Realität so exakt wie möglich darzustellen und dabei keine halbleeren Seiten zu produzieren.
Die Eisenbahn von 1975 gibt es nicht mehr. Nostalgie? Trauer? Nein. Aber es erfüllt mich mit Freude, dass ich sie damals buchstäblich 'erfahren' durfte - die Bahnhöfe mit uniformiertem Personal, grüne Wagen mit Fenstern zum Öffnen und Lokomotiven , die so unvergleichlich nach 'Öl und Strom' rochen...
2025 ist die Bahn genau so vielseitig und spannend wie damals, nur auf andere Art. Auf dieser Schienenkreuzfahrt vor fünfzig Jahren habe ich mich definitiv mit dem Virus infiziert.
Lieber Thomas
Der Virus war sehr ansteckend. Danke für die treffende Beschreibung! Zum Jubiläum unserer unterbruchslosen Zwei-Tagesfahrten bin ich letzten Monat über Nacht im ICE statt ins Tessin nach Berlin und eine Nacht später zurück in die Schweiz gefahren.
Ich wünsche uns und allen Lesern und Leserinnen noch viele unvergessliche Reisen.
Markus