Schulbeginn
- daehlert
- 20. Apr.
- 2 Min. Lesezeit
Vor sechzig Jahren, am 20. April nahm ich zum ersten Mal den Schulweg unter die Füsse. Ein Osterdienstag, das Datum steht auf der Rückseite des Bildes, und an den Schnee erinnere ich mich, als wäre es gestern gewesen.

Meine Spielkameradin und Schicksalsgenossin aus dem Block nebenan geniesst Persönlichkeitsschutz und bleibt daher anonym. Der Grössenunterschied täuscht: Sie ist gleich alt wie ich.
Das Schuljahr begann noch im Frühling, und auch sonst war in der Schule so ziemlich alles anders als heute. Unsere Klasse zählte 31 Kinder, ich habe auf dem Foto nachgezählt. Wir Buben hatten die gleichen Schulranzen, entweder gescheckt mit Seehundsfell oder uni braun. Alle Mädchen trugen eine Art übergrosses Lederetui mit einer Schnalle - oder waren es zwei? - am Rücken; ihre Auswahl war etwas bunter. Die Klappulte waren mit einer Halterung für das Tintenfass ausgerüstet; wir bekamen allerdings, als einer der ersten Jahrgänge in Thun, 'moderne' Füllfederhalter. 'Bekommen' ist nicht ganz korrekt: Ein Pechvogel hatte in der familiären Budgetrunde den Kürzeren gezogen und musste mit der archaischen Schreibfeder zurechtkommen. Niemand verbot Rechner und Smartphones , und am freien Nachmittag traf man den Kollegen zur Besichtigung seiner 'Trix' oder 'Märklin' Modelleisenbahn statt vor der Playstation. 'Wie? Du hast eine 'Fleischmann?'
Die Zeiten ändern, aber immer noch stellt man Novizen und Debütantinnen die Frage: 'Freust du dich auf den Schulbeginn?' Das 'Ja' gilt heute wie damals als Pflichtantwort. 'Manchmal ist es besser zu lügen...' flüstert das Leben den Opfern ins Ohr: Sozialer Druck beginnt vor der ersten Klasse.
Habe ich mich gefreut? Ich erinnere mich vor allem an ein mulmiges Gefühl: Jetzt haben sie dich am Schlafittchen. Unentrinnbar. Neun lange Jahre! Fränzi, die Lehrerstochter, verkündete altklug: 'Das ist nicht mehr wie im Kindergarten, schwänzen verboten!' Es gibt überall solche, die lieber den Mahnfinger zeigen als Empathie...
'Gehst du gerne zur Schule?' Ich hatte keinen Grund, sie zu hassen: Ich war immer bei den Klassenbesten. Unterricht hat mich trotzdem selten fasziniert - ausser als Unterrichtender. Kästner schreibt im Buch 'Als ich ein kleiner Junge war': Ich wollte Lehrer werden, um möglichst lange ein Schüler zu bleiben. Bei mir war es eher umgekehrt. Dass ich den Lehrerberuf nach dem Studium nicht ausgeübt habe, lag nicht an der Motivation, sondern an den Umständen.
Als Freiheitsfanatiker hasse ich Zwänge aller Art. Darum empfand ich Schulungen zeitlebens irgendwie übergriffig - wie heute die Tagesschau. Meine Abneigung gilt nicht nur dem offiziell verpönten, aber immer noch üblichen Frontalunterricht, sondern auch der Teilnahme an Gruppenarbeiten, Rollenspielen und Pseudoprojekten: Künstliche, oft suggestive Situationen, die mich überhaupt nicht stimulieren. Die reale Situation - das 'Leben' - ist die beste Schule: Beim Suchen von Informationen, beim Ringen um Lösungen zu echten Problemen eignet man sich, im Wortsinn, Dinge an und gewinnt Selbstvertrauen.
Bleiben wir fair: Selbstverständlich hat mir die Schule - bis zum Uniabschluss waren das immerhin fast achtzehn Jahre - unverzichtbare Kenntnisse und Fähigkeiten vermittelt. Ohne diesen Grundstock an Wissen und Können wäre ich später als Autodidakt nicht erfolgreich gewesen. Ich war zwar kein begeisterter, aber lange Zeit ein folgsamer und angepasster Schüler: 'Dürfte sich lebhafter am Unterricht beteiligen', stand im ersten Schulbericht. Spätere Lehrerinnen, Lehrer und Chefs hätten sich das Gegenteil gewünscht.
Vielen Dank für eure Geduld mit einem notorischen Dreinredner!


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