Tradition
- daehlert
- 1. Mai
- 2 Min. Lesezeit
Böögg sei dank! Es wird ein schöner Sommer.
Ich nehme diese erfreulichen Aussichten zum Anlass, über Bräuche und Traditionen nachzudenken. Sie sind doch sympathisch, oder etwa nicht? Und sooo typisch...
Eher nicht. Es erstaunt, wie sehr sich das Einzigartige überall gleicht. Den Winter in Form einer Puppe zu verbrennen, ist überhaupt nicht urzürcherisch. Und a propos sympathisch: Sogar die NZZ meint, Zünfte zu feiern sei fragwürdig - Machtkartelle einer patriarchalischen Ständegesellschaft. Das Massenpublikum, das die immergleichen Umzüge begafft, wird mit Bratwurst und Bier abgespeist: Cliquen und Zirkel bleiben lieber unter sich. So ist es in Zürich, und so ist es anderswo.
Der Zeitgeist blickt kritisch auf die Vergangenheit. Nicht zu Unrecht: Das Überlieferte ist meistens keine hundert Jahre alt und verklärt eine Vergangenheit, die es so nie gab. Oder das Ziel der Veranstaltung ist überholt: Am 'Tag der Arbeit' sorgen nur noch die Chaoten des schwarzen Antifa-Blocks für Schlagzeilen. Wen wunderts: Die heutige 'Arbeiterschaft' mit Uni- oder Fachhochschulabschluss ist klassenkampfmüde.
Auch der in Thun heissgeliebte Ausschiesset ist ein Sammelsurium an Fakes und, nüchtern betrachtet, Überholtem. Warum heisst die Hauptperson ausgerechnet 'Fulehung'? Der Mann im Narrenkostüm faulenzt nicht, nein, er 'secklet' von früh bis spät durch die Stadt und verprügelt Kinder. Pfui! Wie übergriffig! Dass seine Teufelsmaske aus der Burgunderbeute von 1476 stamme, ist reine Mythologie: Das Fest wurde in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts erstmals gefeiert.
Zum Ausschiesset gehört das Kadettenkorps. Jeder Flecken hatte damals eine solche Kindertruppe - stramm paramilitärisch organisiert und, wen wundert's - den Buben vorbehalten. Ich habe in den frühen Siebzigerjahren den zögerlichen Umbau zu einem Kindersportverein miterlebt. Noch hiess der Maibummel Ausmarsch, und Leutnants und Wachtmeister führten ihre Züge zum OL und Fussball. Es gab Besammlungs- und Marschübungen.
Weil es an Jungmusikern fehlte, wurden etwa 1970 erste Mädchen in die Blaskapelle aufgenommen - Manchesterjupe statt kurze Hose. Wenig später durften endlich beide Geschlechter gleichberechtigt mitmachen. Und wie! Teenagerinnen sind die besseren Jungs, wenn Sportresultate und Zeugnisnoten entscheiden: Jahr für Jahr bekleideten nun mehrheitlich junge Frauen die obersten Ränge.
Ob unterdessen am Kadettenball auch gleichgeschlechtliche Paare zugelassen sind? Wieso denn nicht: Am Umzug marschiert schliesslich seit je eine Gruppe 'Röcklibuebe' mit; keine Transmenschen, sondern Armbrustschützen im 'mittelalterlichen' Kostüm. Dreizehnjährige zielen - wie hässlich - auf ein Menschenbild: Gessler hoch zu Ross, und wer das Medaillon trifft, wird bejubelt. Würde Thun ohne dieses Brauchtum tatsächlich seine Seele verlieren?
Traditionalistinnen und Legendenfetischisten beschwören gerne den 'Esprit Fédérateur' des Althergebrachten. In Tat und Wahrheit feiert bei Blasmusik und Weinseligkeit vor allem der Kantönli- und Dörfligeist fröhliche Urständ, und der ist nicht sympathisch... aber weit verbreitet. 'Make Glunggewyl great again! Wir haben das tollste Fest mit dem grössten Bratwurststand!'
Lokalpatriotismus ist Bonsai-Nationalismus: Er eint nur die, welche schon dazugehören, und grenzt alle anderen aus.
Im Kanton Freiburg ziehen am ersten Mai die Kinder von Haus zu Haus und singen vor der Türe ein Lied. Dafür bekommen sie ein Geldstück oder eine Süssigkeit. Viele singen grottenschlecht - Gesang gehört nicht mehr zum familiären Alltag. Sei's drum - herzerwärmend, dieses Kleinen, mal schüchtern, mal vorwitzig. Und sehr, sehr gut erzogen.
Es gibt sie eben doch, sympathische Traditionen... Und der Böögg hat, mindestens bis übermorgen, nicht gelogen: Es ist schön und warm.
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