Huara...
- daehlert
- 22. Mai
- 2 Min. Lesezeit
...schön, der Kanton Graubünden! Etwas derb ausgedrückt, aber Bünder reden Klartext. Wie Gian und Giachen, die beiden Kultböcke aus der Tourismuswerbung.
Ich verbringe ein paar Tage im Oberhalbstein, romanisch Surses. Eine Talschaft Mittelbündens: 324 Quadratkilometer zwischen dem Crap Ses oberhalb Tiefencastel bis zur Grenze zum Oberengadin und Bergell, eine faszinierende Berglandschaft ohne bedrückende Enge. Respektable Dreitausender sorgen für Hochgebirgsfeeling: Besonders markant ist die Gruppe mit Tinzenhorn und Ela. Pässe führen in alle Richtungen - ein Wanderparadies. Ein Versucherli findet ihr auf Instagram; Bilder von meiner Tour am Montag.
Der Hauptort Savognin und die Nachbarorte Cunter und Tinizong liegen an der Julierstrasse in einer weiten Talmulde. Kleinere Dörfer von Salouf bis Sur thronen auf sonnigen Terrassen über dem Talfluss Julia, und auch das auf 1800 Metern gelegene Bivio ist eher lieblich als wild. Nur Mulegns ist eingekesselt zwischen Felsen und Steilhängen - ein Schattenloch an einer S-Kurve der Julierstrasse, zur Postkutschenzeit ein wichtiger Etappenort mit einer Sust. Nun stirbt das Dörfchen langsam aus: 13 Unentwegte halten noch die Stellung. Die ganze Grossgemeinde Surses zählt knapp 2500 Einwohnerinnen und Einwohner. Zum Vergleich: Im Freiburger Saanebezirk sind es 111'000 auf zwei Dritteln der Fläche.
Ein Verein will Mulegns retten: Das Dorf wird zum Campus für zeitgenössisches Kulturschaffen, heisst es vollmundig auf der Website von Origen. Treibende Kraft ist Giovanni Netzer, ein 'heruntergekommener' Savogniner. Der Verein hat den Gasthof in ein teures Hotel umgebaut und renoviert das Telegrafenamt (!) und eine 'Zuckerbäckervilla'. Kulturveranstaltungen am zahlreichen Nachmittagen sollen Publikum anlocken. Wie praktisch: Der letzte Bus fährt nämlich um 19:35... Es würden Arbeitsplätze geschaffen, heisst es im Selbstlob von Origen. Tatsächlich? Das Hotelpersonal wird pendeln, umso mehr, als der 'Löwe' nur im Sommer öffnet. Und ich frage mich, wer da nächtigen möchte.

Am letzten Dienstag hat nun ausgerechnet in diesem Ghost Village die digitale Zukunft Graubündens begonnen: Origen ergänzt die renovierte Bausubstanz mit dem 'Weissen Turm', gedruckt auf 3D-Robotern an der ETH Zürich. Ein melodramatisches Video zeigt die Enthüllung, vermutlich am Tag vor dem Festakt bei schönem Wetter inszeniert. Turm? Ein Türmchen, 30 Meter hoch. Wer 100 Franken für die Führung locker macht, darf ihn besteigen. Herr Parmelin, sie sollten sich einen neuen Ghostwriter für ihre Festansprachen suchen: Der Vergleich mit dem Eifelturm ist grotesk.
Ja, er ist gut 'vernetzert', der Verein Origen: Zur Eröffnungszeremonie - 1000 Franken kostete das Ticket - pilgerten nebst dem Bundesrat auch der Rektor der ETH und der Bündner Kulturminister nach Mulegns. Ein paar Regenschauer später fand der Blogger schon wieder ein totenstilles Kaff und war froh, rasch wegzukommen. Die Bushaltestelle ziert neuerdings eine Art Gloriette im passenden Stil: Als Wartehalle ungeeignet, ohne Windschutz.
Die paar verbliebenen Mulegnserinnen und Mulegnser hat niemand gefragt, ob und wie sie gerettet werden möchten, schreibt die NZZ. Ich verstehe ihre Skepsis: Für 4.5 Mio. einen phallokratisch anmutenden Zuckerbäckerturm in ein bescheidenes Bergdorf zu klotzen, ist respektloses Theater.
'Huara khomisch', findet Gian. Und Giachen sekundiert: 'Het doch gnua Berga zum ufekhraxle!' Naja, Steinböcke. Kulturbanausen wie ich.
Herr Netzer, weiss Wikipedia, hat Theologie studiert: Passt zum missionarischen Eifer, auf tote Pferde einzudreschen. Und Schaumschläger lieben Zuckerbäcker, das leuchtet ein. Auch wenn diese ihr Geld nicht in Mulegns verdienten, sondern als Emigranten in Italien.


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